Der Kreml by Merridale Catherine
Autor:Merridale, Catherine [Merridale, Catherine]
Die sprache: deu
Format: epub
ISBN: 978-3-10-402835-4
Herausgeber: Fischer E-Books
veröffentlicht: 2014-05-08T16:00:00+00:00
Ungeachtet des gestiegenen Interesses war der Kreml keine öffentliche Institution und gewiss kein Museum. Sein Schicksal hing von Entscheidungen ab, die am Hof in St. Petersburg getroffen wurden, sowie von dem Budget, das die dortige Regierung entbehren konnte.[805] Glücklicherweise hegten drei der fünf russischen Kaiser des 19. Jahrhunderts eine unverkennbare Vorliebe für Moskau, und sogar der reformfreudige Alexander II., der 1818 im Nikolaus-Palast des Kreml geboren wurde, bezeichnete die Stadt (die er nicht mochte) als »mein Heimatland«.[806] Die Jahre efeuumwucherter Vernachlässigung näherten sich ihrem Ende. »Wie Moskau das Herz Russlands ist«, heißt es in einem Reiseführer von 1856 feierlich, »so ist der Kreml nicht nur das Herz und die Seele unseres aus weißem Stein gebauten Moskau, sondern auch der Same, aus dem unser russischer Zarismus erwachsen ist.«[807] Die Pietät war aufrichtig, doch sie wurde rasch zu einem Anachronismus. Europa wandelte sich, und nicht einmal das aus weißem Stein gebaute Moskau konnte sich von der übrigen Welt isolieren. 1856 war das Jahr, in dem Henry Bessemers neues Verfahren zur Erzeugung von Stahl aus Roheisen die internationale Fertigung zu revolutionieren versprach. Auch die Geschichte der Menschheit selbst wurde neu geschrieben. Außerhalb Düsseldorfs, bei Erkrath, hatten Arbeiter Teile eines Schädels gefunden, der später als Modell für die Identifizierung der Neandertaler galt. Drei Jahre später, 1859, sollte Charles Darwin sein epochales Buch Über die Entstehung der Arten durch natürliche Zuchtwahl veröffentlichen.
Allen Bemühungen der Konservativen zum Trotz war es unmöglich, Fortschritte von derartigen Dimensionen zu bremsen. Im Dampfzeitalter konnte ein politisches System, das sich auf Zwang und politische Unterdrückung stützte, selbst wenn es durch regelmäßige Mengen heiligen russischen Sentiments geölt wurde, nur heißlaufen und absterben. Die klügeren Mitglieder der politischen Schicht Russlands hatten dies bereits unter Alexander I. begriffen, und 1855 wurde der Weg zu begrenzten Änderungen durch den Tod seines obstruktiven Nachfolgers, Nikolaus’ I., geebnet. Die, für sich genommen, größte Reformmaßnahme (deren Fünfzigjahrfeier die Romanows 1911 bewusst ignorierten) wurde sechs Jahre später, nämlich 1861, durchgeführt. Als Alexander II. seinem Vater nachfolgte, ließ er keinen Zweifel daran, dass er beabsichtigte, die Institution der Leibeigenschaft abzuschaffen. Es war eine vernünftige, fast unwiderstehliche und seit langem diskutierte Entscheidung. Sie wurde zu einem Zeitpunkt getroffen, als man die Sklaverei überall in den zivilisierten Staaten in Frage stellte. Das Entsetzen der Konservativen war natürlich vorhersehbar. Im russischen Fall schien ihre Sache vom Monarchen selbst verraten worden zu sein. »Wehe Russland«, schrieb ein in Moskau ansässiger Historiker, »wenn es diese Säule aus eigenem Antrieb zerschlägt und die jahrhundertealten Bande gegenseitigen Nutzens zerreißt.«[808] Wäre Karamsin noch am Leben gewesen, hätte er wahrscheinlich etwas Ähnliches geschrieben. »Leibeigene können befreit werden«, hatte er einmal gewitzelt, »sobald es möglich ist, Wölfe gut zu füttern, während Schafe unverletzt bleiben.«[809]
In Wirklichkeit war das Emanzipationsmanifest eingeschränkt, kompliziert und vorsichtig – weit entfernt von den prinzipienfesten Standpunkten der Sklavereibekämpfer in der englischsprachigen Welt. Aber das Ende der Leibeigenschaft stellte einen heroischen Bruch mit der Vergangenheit dar, und danach folgte ein Programm weiterer bedeutender Reformen. In den kommenden Jahren unterzeichnete Alexander II. Gesetze, die eine bescheidene Kommunalverwaltung, ein ausgedehntes Erziehungswesen und weitreichende juristische Neuerungen, darunter Geschworenengerichte, vorsahen.
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